I: Interview am 25. März 2021 mit Anne Nym.
Frau Nym, Sie sind vielen nur als „Dornröschens böse Fee“ bekannt. Sind Sie böse?
AN: Niemand ist nur gut, und niemand ist nur böse. Es wäre naiv, das zu glauben. Übrigens werden meine Kolleginnen und ich in sachlicheren Berichten nicht als gute oder böse Feen bezeichnet, sondern als weise Frauen. Das erscheint mir sehr viel angebrachter als infantile Schwarz-Weiß-Malerei.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will unethisches Handeln nicht relativieren: Natürlich gibt es Menschen, die anderen so viel Schaden zufügen, dass sie verständlicherweise mit DEM BÖSEN in Verbindung gebracht werden. Dazu gehöre ich aber gewiss nicht.
I: Nun haben Sie aber ein Neugeborenes zum Tode verurteilt.
AN: Erstens: Ich habe das Mädchen nicht zum Tode verurteilt. Ich habe ihm einen frühen Tod gewünscht. Meine genauen Worte waren: „Soll euer Prinzesschen doch verrecken, bevor Ihr es unter die Haube gebracht habt.“ Alles andere wurde peu à peu um- beziehungsweise hinzugedichtet. Tatsächlich konnten aber die weiblichen Sprosse der Königsfamilie damals ab dem fünfzehnten Lebensjahr verheiratet werden, daher wahrscheinlich die Version mit dem fünfzehnten Geburtstag. Wie die Spindel ins Narrativ kam, weiß ich nicht. Vielleicht durch Textilarbeiterinnen, die sich in der Spinnerei die Finger blutig gearbeitet haben. Für sie musste das Gerät das reinste Folterwerkzeug sein.
Zweitens: Ich bin tatsächlich weise und unter anderem im Bereich der Magie sehr gut ausgebildet. Wenn ich das Mädchen ernsthaft hätte umbringen wollen, ob im Alter von fünfzehn Tagen oder fünfzehn Jahren, hätte ich das getan.
Drittens: In den armen Familien des Reiches wären Eltern damals froh gewesen, wenn alle ihre Kinder das fünfzehnte Lebensjahr erreicht hätten. Und die Herrscherfamilie war daran weiß Gott nicht unschuldig.
I: Inwiefern? Ich meine Ihre letzte Aussage. Inwiefern trug die Königsfamilie Mitschuld an der Kindersterblichkeit?
AN: Brutale Ausbeutung. Nun, sie haben den Feudalismus nicht erfunden, aber ihn sich rücksichtslos zu Nutzen gemacht. Es gab zu jener Zeit schon so einige aufgeklärte Monarchinnen und Monarchen, aber unser feiner Herr König blieb dabei: Ohne Adelstitel keine Mitsprache, keine Rechte, kein Besitz. Erst sind dem Grundherren die Abgaben zu zahlen, dann kannst du vielleicht noch deine Kinder füttern und warm halten. Und: Bauernkinder, die eine Hacke halten können, gehören aufs Feld.
Mich haben regelmäßig Frauen aufgesucht, die nicht stillen konnten. Sie fragten nach Medizin und Wundermitteln, dabei waren sie einfach chronisch unterernährt. Natürlich werden die Kinder dann in der Regel nicht alt.
I: Dann war Ihre Verwünschung ein Racheakt?
AN: Sagen wir, ein Moment des Kontrollverlusts. Ich war sehr, sehr wütend. Der König hatte uns eingeladen, damit wir sein Kind bewundern und möglichst noch mit Segenswünschen überhäufen. Vielleicht dachte er, wir finden die Kleine so niedlich, dass wir irgendeinen tollen Zauber aussprechen, damit sie Gold statt Scheiße in die Windeln kackt, wer weiß. Die Einladung ging an unser Zunfthaus, ganz allgemein formuliert. Aber als ich dann kam, hieß es, ich sei nicht eingeladen. Der König hat dann die Geschichte mit den Goldtellern erfunden, aber jeder wusste, dass es dort goldenes Geschirr gab, das für die gesamte Landshuter Hochzeitsgesellschaft gereicht hätte.
I: Und was war Ihrer Meinung nach der Grund?
AN: Nun ja, er kannte meine Einstellung. Ständig habe ich ihn auf die Situation der Armen angesprochen. Und natürlich hatte ich vor, ihm anlässlich der Geburt seines ersten Kindes ein paar Maßnahmen zum Schutz von Müttern und Kindern aus den Rippen zu leiern. Das hat der verdammte Dreckskerl natürlich geahnt. Ich habe mich dann an den Wachen vorbeigedrängt und bin in den Festsaal gelaufen. Da saß der König mit dem ganzen Hofstaat, schwenkte seinen diamantbesetzten Bierkrug und grölte herum, in welche ach so bedeutenden Häuser sein Töchterchen mal einheiraten würde, in das der Habsburger oder der Bourbonen, und mit welchem Kaiser er dann jagen gehen würde. Da sind bei mir einfach die Sicherungen durchgebrannt.
I: Und was hat es mit der Geschichte auf sich, Ihre Kollegin Nummer zwölf habe den Fluch in einen hundertjährigen Dornröschenschlaf umgewandelt?
AN: Das wäre ja zu schön gewesen. In der Zeit hätten wir wunderbar eine Republik gründen können. Nein, im Ernst, ich bin zwar die Lauteste in unserem Gremium, aber wir alle haben ähnliche Ziele. Nun setzen meine Genossinnen eher auf Diplomatie und die Politik der kleinen Schritte, aber in dem Moment konnte sich eine doch nicht beherrschen. Nachdem ich das mit dem Verrecken gesagt hatte, murmelte sie etwas zu laut in ihr Weinglas: „Keine Angst, wenn das so weitergeht, saufen und fressen die sich alle ins Jahrhundertkoma!“
Das alles machte natürlich ganz schnell die Runde im Reich, und der König hat dann überall dieses Ammenmärchen von der bösartigen Verrückten und der sanftmütigen Schlichterin verlesen lassen. Als dann über die Jahrzehnte noch der obligatorische Prinz hinzukam, war das patriarchale Lehrstück perfekt.
I: Und wie ging die Geschichte in Wirklichkeit weiter?
AN: Augenscheinlich ist das Leben der Prinzessin nach Plan verlaufen. Ihr kleiner Bruder wurde nach dem Tod des Vaters König, bis er bei einer Revolution gestürzt wurde. Gestorben ist er allerdings im Exil bei einem Jagdunfall – kurz vor seiner geplanten Hochzeit. Nach der Restauration durfte die Prinzessin deshalb sogar für zwei Jahre als Regentin für ihren Sohn, den legitimen Thronfolger, führen. Dann hat ihr Sohnemann das Zepter in die Hand genommen und ihr aufgetragen, sich gefälligst um Frauensachen zu kümmern. Danach hat man nichts mehr von ihr gehört.
I: Und was haben Sie nach dem Eklat um die Tauffeier gemacht?
AN: Ich habe weitergearbeitet wie zuvor, nur an anderen Orten. In diesem Königreich hatten die Leute nach der königlichen Hetzkampagne Angst vor mir. Und wenn die Leute mir nicht vertrauen, kann ich auch nicht helfen.
I: Frau Nym, ich danke Ihnen für das Interview und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem weiteren Wirken.
AN: Sehr gerne, auch Ihnen vielen Dank.
Foto von Matheus Bertelli von Pexels
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