Es war der erste Tag in Freiheit. Ihr Hausarrest war wegen Beamtenbeleidigung für 3 Monate verhängt worden. Nun hatte sie es also geschafft!
Heute wollte sie sich endlich ihrem Spiegelbild stellen. Das hatte sie in den letzten Wochen vermieden. Überhaupt fand sie es für Menschen in ihrem Alter eine fast unzumutbare Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens. Würde sie sich überhaupt wiedererkennen? Sie nahm all ihren Mut zusammen und öffnete erst das eine dann das andere Auge.
Es war der vermutete Schock! Die bis zu einem undefinierbaren Grau erblasste Haut ließ ihre tiefen Falten auf der Stirn und um Mund und Augen noch tiefer erscheinen. Ihre Haare hatten den gleichen Farbton und waren lang und zottelig gewachsen, sie glaubte einige Dreadlocks am Hinterkopf auszumachen. Aus grottenartigen Höhlen blickten sie misstrauische Augen an, ohne Glanz. Und ohne Wimpern! Was war da passiert? Vielleicht hatte das Salz ihrer Tränen sie verätzt? Ja, sie hatte viel geweint, aus Wut. Wegen der Ungerechtigkeit dieses Schweinesystems. Das unverhältnismäßig strenge Urteil hatte ihre Hilflosigkeit gegenüber der Macht der staatlichen Behörden unerträglich eindeutig betont. Nur weil sie ihrem Unmut auf dem Arbeitsamt etwas Luft gemacht hatte. Sie hatte keine Gewalt angewandt, hatte niemanden körperlich angegriffen. Aber ihr Pflichtanwalt war schlicht und einfach unfähig gewesen.
Naja, nun war das Vergangenheit und sie konnte wieder am öffentlichen Leben teilhaben. Sie hatte viel gegrübelt und beschlossen, dass sich ihr Leben ändern musste. Und wenn eine Frau ihr Leben verändern will, … na? Ja, dann geht sie zum Friseur. Ihr Lebensrettungstermin
war in einer Stunde.
Sie beeilte sich, verzichtete aufs Frühstück und verließ mit gesenktem Kopf das Haus. Ihr Fahrrad stand noch im Fahrradkeller. Immerhin! Es schien ihr, als flöge sie über den Fahrradweg. Sie genoss die kühle Morgenluft. Als sie am Friseursalon ankam, erhellte fast ein kleines, sanftes Lächeln ihr einfarbiges Gesicht.
Der Friseur hielt ihr die Tür auf, half ihr aus dem Mantel und begleitete sie zu ihrem Platz. Sie ließ sich mit einem erleichterten Seufzer in den Sessel fallen. „Waschen, schneiden, legen, vielleicht ein bisschen Farbe?“ „Nee, erstmal nur rasieren“ erwiderte sie gutgelaunt und öffnete ihren Mund mit einem breiten Lächeln.
Der Friseur hielt sich krampfhaft an der Lehne des Sessels fest, dann drehte er sich ruckartig um und stürzte aus dem Raum. Durch die geschlossene Toilettentür hörten die Kundinnen deutlich sein Würgen.
Text: E. J.
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