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Das Leiden der Königin

Es war einmal eine Königin, die so klug und aufopferungsvoll regierte, dass sie von ihren Untertanen auch die große Mutter genannt wurde. Nun kam jedoch der Tag, an dem die Königin ihre Kinder rufen musste, weil sie sich dem Ende nahe fühlte. Zuerst hatte sie der Krankheit nicht viel Bedeutung beigemessen, hatte lange gewartet, bis sie sich nun im Innersten erschüttert und unerträglich schwach fühlte. Ihr Körper war verbraucht, fast alle ihre zuvor so prächtigen Haare waren ausgefallen. Die Rugen in ihrem Antlitz waren tief wie Ackerfurchen, so dass sie kaum mehr zu erkennen war. Ihr Kopf schmerzte wie zum Zerbersten, all ihre Organe waren entzündet. Doch das Schlimmste waren die Ödeme, die sie Tag und Nacht quälten, ihr den Schlaf raubten. Sie fieberte.

Dreimal hatte sie geliebt und es waren unzählbar viele liebenswerte Wesenheiten aus diesen Verbindungen hervorgegangen. Unterschiedlich voneinander, wie es auch die Geliebten gewesen waren. Der erste ein luftiger Freigeist, der zweite ein gefügiger Romantiker, beide in tiefste Betrübnis und später in geistigen Verfall versunken. Der dritte, ein leidenschaftlicher Heißsporn war seiner Natur gemäß in rasende Wut geraten. Aber das war alles lange her. Danach war sie keine Liebesbande mehr eingegangen. All ihre unendliche Liebe hatte sie ihren Kindern geschenkt.

Nun musste also ihre Nachfolge geklärt werden. Doch niemand der riesigen Kinderschar wollte die große Verantwortung übernehmen. Sie berieten sich lange und entschlossen, die Mutter zu retten, die Krankheit zu bekämpfen. Sie durfte nicht sterben! Es gab nie wieder eine wie sie. Also wurden von überall her Gelehrte und Heiler gerufen. Die gingen 7 Tage in Klausur. Am Ende des letzten Tages verkündeten sie die Ergebnisse ihrer Beratungen: es war ein feindseliges Wesen in die Mutter eingedrungen. Das galt es zu zerstören!

Eine der Geschwistergruppen musste sich opfern, am besten von den Kleineren, weil sie von der Mutter verschluckt werden mussten. Dort im Inneren der Königin würden sie die Krankheit bekämpfen. Ob der hervorragenden Bewaffnung, mit der sie ausgerüstet werden würden, wäre es ein leichtes den Feind zu besiegen, auch weil der sich in Sicherheit wähnte. Er fühlte sich als Herrscher über den Körper der Königin. Und da seine Herrschaft schon so lange nicht angezweifelt worden war, fühlte es sich an, als ob dieser Zustand ganz selbstverständlich sei, ja seit Anbeginn der Welt so gewesen wäre.

Die Königskinder gingen also beherzt voran und innerhalb eines Jahres hatten sie die feindlichen Truppen in ihren Händen. Die Hartnäckigen schlugen sie in die Flucht und sie verhandelten mit den Deserteuren. Und die sollten das nie bereuen...

Denn die so reduzierte Menschheit fing ganz von vorne an. Niemals mehr wollten sie die Erde so missachten und quälen. Sie würden ihr dienen, sie pflegen. So dass die Sonne wieder scheinen, die Bäche wieder gurgeln und die Vulkane wieder schweigen würden. Sie würden immer im Heute leben.



Text: E.J.





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