Übung: Redewendungen wörtlich
Sie hatte sie nicht kommen sehen. Wie aus dem Nichts waren sie gekommen und hatten sich vor ihr aufgebaut. Es waren sechs, sie kreisten sie im Nu ein und starrten sie finster an. „Guten Tag!“ sagte sie und ärgerte sich über ihre dünne Stimme. „Wen haben wir denn da?“ knurrte eine große Gestalt ihr gegenüber und kam ein gutes Stück näher, so dass er direkt vor ihr stand. „Eine miese kleine Zecke!“ „Oh nein, ich bin keine Zecke!“ sagte sie hastig. „Ich...“ „Halt's Maul!“ blaffte ihr Gegenüber. „Das ist unser Revier und hier haben wir das Sagen! Du sprichst also nur, wenn du gefragt wirst! Kapiert?“ „Los, machen wir sie fertig!“ tönte hinter ihr eine weibliche Stimme, gefolgt von mehrstimmigem beifälligen Grölen.
„Nicht so hastig, Leute!“ sagte der Große, der offenbar der Anführer der Bande war. „Ich würde mich gern noch ein bisschen unterhalten!“ Das klang allerdings so bedrohlich, dass ihre Beine anfingen, zu zittern. Ihm fiel das offenbar auch auf. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Acht schlotternde Beinchen an einem hässlichen kleinen Körper. Also für mich heißt das, dass du eine widerliche Zecke bist. Du hast einen Fehler gemacht, kleine Zecke! Das hier ist Flohrevier! Wolltest an unser Hundeblut, was?“ Sie sah ihn schockiert an. „Hundeblut? Nein! Ich esse nur In...“ Sie zögerte... „Ich esse ganz kleine Fliegen und so etwas. Ich bin wirklich eine ganz normale Spinne. Guck mal, ich habe gar nicht so ein komisches Hinterteil, das sich aufblähen kann!“ Sie dreht sich einmal im Kreis. Die Flöhe um sie herum hoben kampfbereit die Vorderbeine. „Ganz ruhig, Leute!“ sagte der Oberfloh. „Und du, kannst du mir dann vielleicht erklären, was eine Spinne auf einem Haustier zu suchen hat?“ Sie konnte. „Einen Weg nach draußen! Ich habe mein ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht! Tag ein, Tag aus die gleiche Aussicht, die gleichen Obstfliegen, ich kann es nicht mehr sehen. Darum warte ich hier, bis er wieder raus geht, und wo es mir gefällt, springe ich ab!“ Der Oberfloh sah ein kleines bisschen beeindruckt aus, schien aber immer noch Zweifel zu hegen. „Eine ganz normale Spinne, he?“ „Zwergspinne. Mein Name ist Bärbel.“ Sie deutete mit ihren vier vorderen Beinen einen kleine Verbeugung an. „So, so, Bärbel, die Zwergspinne. Dann zeig mir doch mal, wie du Fäden spinnst.“ Langsam krabbelte Bärbel ein Hundehaar hoch, die Augen immer auf den Oberfloh gerichtet, um sicher zu gehen, dass er ihre Bewegung nicht als Fluchtversuch missverstand. Oben angekommen, ließ sie sich elegant an einem Faden wieder hinuntergleiten. Die Vorstellung war kurz, aber eindeutig. „Hm. Nichts für ungut, Bärbel, die Zwergspinne. Wir hatten auf diesem Hund schon viel Ärger mit Zecken. Wenn die sich irgendwo festbeißen und aufblasen, bringen sie uns alle in Gefahr. Dann ist ganz schnell Insektengift im Spiel. Darum sind wir so vorsichtig.“ „Verstehe.“ sagte Bärbel. „Okay, Leute, lasst sie in Ruhe.“ sagte der Oberfloh in die Runde. „Alles in Ordnung. Bieten wir der Kleinen eine Mitfahrgelegenheit. Bald müsste es wieder losgehen.“ Die anderen murmelten zustimmend und krabbelten in verschiedene Richtungen davon. „Eine Frage noch, Bärbel, die Zwergspinne!“ sagte der Oberfloh. „Ja, bitte!“ sagte sie auffordernd. Nachdem die Gefahr gebannt war, fand sie die ganze Situation unglaublich aufregend! „Wie bist du auf den Hund gekommen?“ Und mit vielen Gesten schilderte Eva, wie sie mehrmals vergeblich versucht hatte, sich auf den unter ihr vorbeitrottenden Hund fallen zu lassen. Dank irgendeines dämlichen Reflexes hatte sie immer einen Faden produziert und war viel zu langsam herabgeschwebt. Dann war sie, immer an der Wand entlang, durch die ganze Wohnung gewandert. Am Hundekorb angekommen hatte sie festgestellt, dass dieser gar kein Korb, sondern eine Art Plastikschale war. Die Wand war so rutschig gewesen, dass sie nicht einmal die kurze Strecke unter dem abgesenkten Einstieg geschafft hatte. Also hatte sie so lange in einem Versteck lauern müssen, bis sich eine Gelegenheit geboten hatte: Bei dem Versuch, sich an einer unerreichbaren Stelle zu lecken, hatte der Hund seine Decke so über den Korbrand geschoben, dass sie auf den Boden reichte. Über den Stoff war sie dann in den Korb geklettert und ohne weitere Schwierigkeiten auf den Hund gekommen.
„Alle Achtung!“ sagte der Oberfloh. „Was man nicht in den Beinen hat, muss man wohl im Kopf haben! Dann halt dich gleich gut fest, der Hund veranstaltet immer ein Mordstheater, wenn es los geht. Er soll dich ja nicht herunterschütteln, bevor wir überhaupt aus der Wohnungstür sind. Viel Spaß da draußen und lass dich nicht von den Vögeln fressen!“ Er drehte sich um und senkte das Hinterteil zum Sprung. „Alles klar! Dankeschön!“ rief sie im hinterher und machte sich bereit für die Reise ins Ungewisse.
Text: Uta Vonderweide
Comments